Dafür sind sie zu wertvoll – Zweifelhafte antibiotische Anwendungen fernab von Infektionskrankheiten und interessante Alternativen bei Harnwegsinfektionen

Kategorien:  Harnwegsinfekte 

Antibiotika bei Rückenschmerzen, bei Posttraumatischen Belastungsstörungen oder bei der Behandlung von Blinddarmentzündungen – liest man die Meldungen der letzten Monate*, beschleicht einen der Eindruck, dass die medizinische Praxis seltsame intellektuelle „Beifänge“ bereithält. Um auf letztgenannte Indikation einzugehen: Unbestritten ist eine akute Appendizitis (Blinddarmentzündung) in der Kinderarztpraxis ein klinisches Geschehen, welches konsequentes Handeln erfordert und es gibt an der medizinischen Ursache nicht viel auszulegen. Daher war die chirurgische Intervention immer Erste Wahl. „Aber wieso nicht einmal über den Tellerrand schauen?“, haben sich Wissenschaftler aus China gefragt. In einer Meta-Analyse verglichen die Forscher die alleinige Antibiotika-Gabe mit einer operativen Entfernung des Blinddarms 1. Resultat: In der Gruppe der Kinder, die nur das Antibiotikum erhielten, waren 9 von 10 Patienten mit unkomplizierter Appendizitis innerhalb von 48 Stunden symptomfrei, ebenso im Monat danach. ABER: Ca. 30 Prozent der Kinder mussten innerhalb eines Jahres dennoch chirurgisch behandelt werden, offensichtlich, weil die Causa noch fortbestand.

Andererseits ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass das reflexartige Verordnen von Antibiotika, beispielsweise bei Harnwegsinfektionen, in den Standardwerken medizinischer Qualitätssicherung kritisch hinterfragt wird, so z. B. in der 2017 aktualisierten S3 Leitlinie zur Therapie von Harnwegsinfekten2. Immerhin beteiligten sich an deren Abfassung Vertreter von Vereinigungen wie die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU),  die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für klinische Nephrologie (DAGKN), die Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie (PEG), die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM), die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM), die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie (DGI) sowie Patientenverteter.

Zum Hintergrund: Leitlinien sind systematisch entwickelte Entscheidungshilfen für Ärzte und Patienten für angemessene medizinische Vorgehensweise bei bestimmten gesundheitlichen Problemen, wie z. B. auch die Therapie eines Harnwegsinfektes.

Folgende Argumente waren bei der Leitlinienerstellung konsensfähig:

Zunächst sind Spontanheilungsraten bei akuten, unkomplizierten Blasenentzündungen hoch (30 bis 50 Prozent innerhalb einer Woche nach Auftreten erster Symptome). Daher sollte die Therapie auf Symptomlinderung abzielen. Die S3 Leitlinien zitieren z. B. eine aktuelle Studie, die eine schmerzlindernde Behandlung mit Ibuprofen mit einer sofortigen antibiotischen Behandlung vergleicht. Unter symptomatischer (schmerzlindernder) Behandlung waren in einer anderen Arbeit nach einer Woche 70 Prozent der eingeschlossenen Patientinnen beschwerdefrei im Vergleich zu 80 Prozent bei antibiotischer Behandlung.3

Zusammenfassend lautet folgerichtig die explizite Empfehlung: 

„Vor diesem Hintergrund kann Patientinnen mit einer akuten unkomplizierten Zystitis eine nicht-antibiotische Behandlung angeboten werden. … Bei der Entscheidung für eine Therapie sollten die Präferenzen der Patientinnen angemessen berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für die primär nicht-antibiotische Behandlung, die mit der Inkaufnahme einer höheren Symptomlast

einhergehen kann…. Bei Patientinnen mit leichten/mittelgradigen Beschwerden kann aber die alleinige symptomatische Therapie als Alternative zur antibiotischen Behandlung erwogen werden. Eine partizipative Entscheidungsfindung mit den Patienten ist notwendig.“ 

Ganz offensichtlich spiegeln die Leitliniengeber damit die Praxiserfahrung, dass Patientinnen unter Leidensdruck einerseits und einer expliziten Erwartungshaltung an nicht-antibiotische Alternativen auch zunehmend ärztliches Handeln beeinflussen. Man kann geradezu von einer „Demokratisierung der Medizin“ sprechen.

Ob eine reine Behandlung mit Schmerzmitteln bei unkomplizierten Harnwegsinfekten wirklich ausreichend und auch in Bezug auf mögliche Nebenwirkungen der Königsweg ist, muss sicherlich noch genau beobachtet werden. Eine mögliche Alternative erscheint eine Kombination der symptomatischen und antibakteriellen Behandlung zu sein. In diesem Zusammenhang stellen Senföle wie zum Beispiel aus der Kapuzinerkresse, die in den aktuellen Leitlinien zum Einsatz bei häufig wiederkehrenden Blasenentzündungen empfohlen werden, eine interessante Alternative dar, erreichen sie doch sowohl die ursächlich beteiligten Erreger als auch eine Schmerzlinderung durch antientzündliche Eigenschaften4-7.

Literatur:

1Huang, L, Yin Y, Yang L, Cun W, Li Y, Zhou, Z. Comparison of Antibiotic Therapy and Appendectomy for Acute Uncomplicated Appendicitis in Children. A Meta-analysis. Article InformationJAMA Pediatr. 2017;171(5):426-434. doi:10.1001/jamapediatrics.2017.0057

2  http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/043-044l_S3_Harnwegsinfektionen_2017-05.pdf  (s. 79)

3Greenberg JA, Newmann SJ, Howell AB (2005). Consumption of sweetened dried cranberries versus unsweetened raisins for inhibition of uropathogenic Escherichia coli adhesion in human urine: a pilot study. J Altern Complement Med. 11/5:875-878. 201.

4Goos K, Albrecht U, Schneider B (2006): Wirksamkeit und Verträglichkeit eines pflanzlichen Arzneimittels mit Kapuzinerkressenkraut und Meerrettich bei akuter Sinusitis, akuter Bronchitis und akuter Blasenentzündung im Vergleich zu anderen Therapien unter den Bedingungen der täglichen Praxis. Arzneim.-Forsch./Drug. Res. 56 (3), 249-257

5 Goos K, Albrecht U, Schneider B (2007): Aktuelle Untersuchungen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit eines pflanzlichen Arzneimittels mit Kapuzinerkressenkraut und Meerrettich bei akuter Sinusitis, akuter Bronchitis und akuter Blasenentzündung bei Kindern im Vergleich zu anderen Antibiotika. Arzneim.-Forsch./Drug. Res. 56 (4), 238-246

6Häringer E (2012): Natürlich gegen Bakterien: Pflanzliche Antibiotika bei Harnwegsinfektionen. Erfahrungsheilkunde (EHK) 61:193-198

7Schulz V (2008): Erfolgreiche Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfekte. Kombination aus Kapuzinerkresse und Meerrettichwurzel ist wirksam. Zeitschrift f. Phytotherapie 29, 130-131

* Hintergrundinformationen zum Thema

http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/schmerz/rueckenschmerzen/article/932628/neuer-therapieansatz-antibiotika-rueckenschmerzen.html?cm_mmc=Newsletter-_-Newsletter-C-_-20170328-_-R%C3%BCckenschmerzen

http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/magen_darm/article/934530/blinddarmentzuendung-antibiotika-machen-skalpell-konkurrenz.html?cm_mmc=Newsletter-_-Newsletter-C-_-20170427-_-Magen-Darmkrankheiten