Bitterstoffe – therapeutische Bedeutung wiederentdeckt

Interview mit Michael Greiff, Apotheker, Rotthalmünster

Medizin muss bitter schmecken, wenn sie wirken soll – so war das zumindest früher. Apotheker setzten ihren Medikamenten damals sogar absichtlich Bitterstoffe zu, um das Gefühl der Wirksamkeit zu unterstreichen. Das ist heute anders. Darüber sprachen wir mit dem Apotheker Michael Greiff, Rotthalmünster.

Herr Greiff, früher hat Medizin bitter geschmeckt. Warum hat sich dies geändert?

Die Geschmacksempfindung „bitter“ ist eigentlich für den Körper ein Warnsignal, einen Stoff nicht hinunterzuschlucken. „Bitter“ steht für „giftig“. Pflanzen produzieren die bitteren Stoffe, um sich vor Fraßschäden zu schützen – ein System, das in der Natur gut funktioniert. Bei Krankheiten wurden früher vielfach Pflanzen zur Heilung eingesetzt, die bitter schmeckten. So haben sich Menschen daran gewöhnt, dass „bitter“ auch heilen kann. Seit sich die Pharmazie mehr damit beschäftigt, nicht nur wirksame, sondern auch leichter einzunehmende Arzneien zu entwickeln (insbesondere süße Sirups für Kinder), müssen Medikamente angenehm oder zumindest neutral schmecken. Bittere, wirksame Arzneien sind daher mitunter Zubereitungen mit ähnlicher Wirksamkeit, aber mehr Wohlgeschmack gewichen.

Die Bitterstoffe scheinen doch aber eine gewisse Funktion im Körper zu haben. Welche Wirkungen sind allgemein von Bitterstoffen bekannt?

Die Bedeutung von Bitterstoffen für den menschlichen Körper ist tatsächlich sehr groß. Das zeigt sich bereits darin, dass es auf unserer Zunge nur jeweils einen Rezeptortyp für süß, salzig, sauer und würzig oder schmackhaft gibt, aber 25 verschiedene Bitterrezeptoren. Diese versetzen uns theoretisch in die Lage, tausende Bittersubstanzen zu erkennen. Rezeptoren für Bitterstoffe gibt es aber nicht nur auf der Zunge. Sie wurden mittlerweile überall im Körper identifiziert, auch in der Nase und im Bronchialsystem. 

Bitterstoffe kommen von Natur aus in einer Vielzahl von Kräutern, Gewürzen, Wildpflanzen, Obst oder Gemüse vor. Diese Pflanzen bilden Bitterstoffe zu ihrem eigenen Schutz, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Aus vielen Lebensmitteln wurden die Bitterstoffe inzwischen herausgezüchtet, so prägt die Lebensmittelindustrie unseren Geschmackssinn immer mehr in Richtung süß, salzig, sauer und scharf. Dabei haben Bitterstoffe viele wichtige Funktionen, zum Beispiel für die Verdauung, das Immunsystem und unseren Säure-Basen-Haushalt. Sie fördern eine schnellere Verdauung, erhöhen das Sättigungsgefühl und wirken einer Übersäuerung des Körpers entgegen. Eine Studie von Wissenschaftlern aus den USA hat gezeigt, dass Bitterstoffe über die Stimulation entsprechender Rezeptoren in den unteren und oberen Atemwegen auch antibakterielle und schleimlösende Prozesse bewirken können. 

Wie wirken Bitterstoffe im Bronchialsystem?

Im Bronchialsystem vermitteln Bitterstoffe drei unterschiedliche Wirkungen. Einerseits regen sie kleine Härchen auf den Schleimhäuten der Atemwege dazu an, sich schneller zu bewegen. So werden Mikroorganismen von der Zelloberfläche ferngehalten. Außerdem wird dadurch der Schleim besser aus dem Körper heraustransportiert. Die Rezeptoren können der Zelle aber auch mitteilen, dass sie Stickstoffmonoxid (NO) ausschütten soll – ein Stoff, der nicht nur gegen Bakterien wirkt, sondern auch eine entspannende Wirkung auf die bronchiale Muskulatur hat. Eine weitere Rolle der Rezeptoren besteht darin, die Zelle zur Ausschüttung von bestimmten Abwehrstoffen, sogenannten Defensinen, zu bewegen. Diese richten sich gegen verschiedene Mikroorganismen. Diese Immunantwort, die durch den Bitterstoff-Rezeptor vermittelt wird, ist Teil unseres angeborenen Immunsystems und arbeitet sehr schnell.

Bitterstoffe werden ja auch heute noch in der Medizin eingesetzt. Bekannt sind beispielsweise der gelbe Enzian bei Verdauungsbeschwerden oder die Arzneipflanze Andorn gegen Husten. Wie wirken die Bitterstoffe hier?

Der gelbe Enzian regt - wie auch der Andorn – nicht nur die Bitterrezeptoren auf der Zunge an. Er entfaltet seine Wirkung vor allen Dingen an Rezeptoren im Magen. Dort wird dann vermehrt Gastrin ausgeschüttet – ein Verdauungshormon, das die Ausschüttung von Magen- und Gallensaft fördert und so die Verdauung anregt. 

Andorn, die Arzneipflanze des Jahres 2018, wird bei Erkältungshusten eingesetzt. Ein Extrakt aus Andornkraut wirkt schleimlösend, antientzündlich und krampflösend. Die Arzneipflanze enthält den Bitterstoff Marrubiin. Der Name dieses Bitterstoffes stammt vom hebräischen „mar“, das bedeutet „bitter“, und „rob“, was so viel wie „viel“ bedeutet, ab. Übersetzt heißt Marrubiin daher „sehr bitter“. Auf den glatten Muskelzellen des Bronchialsystems gibt es Rezeptoren für Marrubiin. Bindet dieser Bitterstoff an den Rezeptor, kommt eine Bronchien entspannende und antiinfektive Reaktionskette in Gang: Die Erreger werden bekämpft, die verengten Bronchien erweitert und festsitzender Schleim kann besser abgehustet werden. 

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